Aktive Industriepolitik betreiben – Mitbestimmung und Gewerkschaften als zentrale Elemente der sozialen Marktwirtschaft stärken
Vertreter der IG Bergbau, Chemie, Energie Baden-Württemberg haben bei einem Gespräch mit der SPD-Landtagsfraktion die Bedeutung von Industriepolitik und Tarifautonomie betont. „Ohne Betriebsräte wäre der Willkür der Arbeitgeber oft keine Grenze gesetzt. Die beiden Säulen Tarifautonomie und Mitbestimmung geben der Arbeit der Betriebsräte Sicherheit“, so der Landesbezirksleiter der IG BCE Baden-Württemberg, Ralf Stockheim. Bei dem Gespräch der SPD-Landtagsfraktion mit Vertretern der IG Bergbau, Chemie, Energie Baden-Württemberg und Betriebsräten der chemischen, kunststoffverarbeitenden und papiererzeugenden Industrie wurde die große Bedeutung der industriellen Produktion in Baden-Württemberg hervorgehoben. Um im weltweiten Wettbewerb um die besten Produkte Arbeitsplätze in Baden-Württemberg zu sichern und auszubauen, kommt es nach den Worten von SPD-Fraktionschef Wolfgang Drexler und IG BCE Landesbezirksleiter Stockheim vor allem auf drei Dinge an:
• Mit einer aktiven Industriepolitik sollen neue Geschäftsfelder mit neuen Arbeitsplätzen erschlossen werden.
• Nur mit starken Gewerkschaften und handlungsfähigen Betriebsräten können Veränderungsprozesse in den Unternehmen unter Beteiligung der Belegschaft sozial und ökonomisch erfolgreich bewältigt werden.
• Durch die Bildungspolitik muss die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als wichtigster Standortfaktor im weltweiten Wettbewerb weiter gestärkt werden.
Aktive Industriepolitik für das Industrieland Baden-Württemberg
Wolfgang Drexler, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, erinnerte daran, dass Baden-Württemberg das Industrieland schlechthin ist. 1,4 von 4,8 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind im verarbeitenden Gewerbe tätig. Mit 134 industriellen Arbeitsplätzen pro 1.000 Einwohnern liegt Baden-Württemberg im Jahr 2004 mehr als 50% über dem bundesweiten Wert von 88 und immer noch 37% über dem Wert der westdeutschen Flächenländer (WFL: 98). Auch viele Arbeitsplätze in der Dienstleistungsbranche hängen von der Nachfrage durch Industrieunternehmen ab. Der große Beschäftigungszuwachs bei den unternehmensnahen Dienstleistungen wäre ohne eine gesunde industrielle Struktur nicht möglich.
Drexler: „Von Dienstleistungen allein werden wir in Baden-Württemberg nicht leben können. Ein Drittel unserer Wirtschaftsleistung wird im verarbeitenden Gewerbe erwirtschaftet und unzählige Jobs im Dienstleistungsbereich hängen direkt von industriellen Auftraggebern ab. Um weiter erfolgreich zu sein, brauchen wir daher eine aktive Industriepolitik, die an den bestehenden Stärken der Regionen Baden-Württembergs anknüpft.“
Am Beispiel der chemischen Industrie lassen sich die Notwendigkeiten einer modernen Politik für Arbeitsplätze besonders deutlich und ganz konkret darstellen. Das liegt an der sehr mittelständisch geprägten Struktur der Betriebe und an den Funktionen dieser Branche für die Gesamtwirtschaft, beispielsweise als Zulieferer für die Automobilindustrie. Darüber hinaus sind für die chemische Industrie aber auch ganz spezifische Faktoren wichtig, wie beispielsweise eine sichere und kostengünstige Energieversorgung.
Energiepolitik als Fundament einer aktiven Industriepolitik
Eine aktive Politik im Interesse der chemischen Industrie beginnt bei der Energiepolitik, denn eine sichere und kostengünstige Energieversorgung gehört zu den Grundvoraussetzungen für den Erfolg der häufig energieintensiv produzierenden Unternehmen dieser Branche. Beim Thema Energiepolitik stehen in den kommenden Jahren Milliarden-Inves¬ti¬tionen der Energieerzeuger an, sowohl durch die großen Vier (RWE, Eon, EnBW und Vattenfall Europe), als auch durch die vielen kleinen kommunalen Stadtwerke.
Alleine 40 Gigawatt Kraftwerksleistung müssen ersetzt werden aufgrund des Alters der bestehenden Anlagen. Ein Beispiel hierfür sind die Blöcke 3 und 4 des Großkraftwerks Mannheim (GKM). Das GKM plant deshalb Investitionen in einer Höhe von bis zu 750 Mio. Euro, mit denen nicht nur die bestehende installierte Kraftwerksleistung von rd. 1.700 MW sichergestellt werden soll. Insgesamt würde sich die Leistung des GKM mit den neuen Investitionen um über 500 MW deutlich erhöhen, so dass auch ein Ersatz für die auslaufenden Kernkraftwerke möglich wird. Die EnBW plant zwar ebenfalls Investitionen in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro. Das konkreteste Investitionsvorhaben der EnBW ist jedoch ein Joint-Venture mit der STEAG in Duisburg.
Auch die kommunalen Stadtwerke Baden-Württembergs wollen in neue Kraftwerkskapazitäten investieren, um von den großen Energieversorgern unabhängiger zu werden. Die Stadtwerke Ulm und die Stadtwerke Schwäbisch Hall beteiligen sich an einem am 5. Mai beschlossenen Investitionsobjekt über 450 Mio. Euro im westfälischen Hamm. Die Südwestdeutsche Stromhandels GmbH, die die Interessen mehrerer Stadtwerke bündelt, prüft derzeit 4 Projekte für neue Kraftwerke, allesamt außerhalb Baden-Württembergs.
Für das Industrieland Baden-Württemberg ist es von großer Bedeutung, von diesen Investitionsplänen zu profitieren. Umso bedenklicher ist es, dass die konkreten Investitionspläne der kommunalen Stadtwerke und der EnBW an Baden-Württemberg vorbeizugehen drohen.
Zukunftsfähige Arbeitsplätze in Wachstumsbranchen schaffen
Aktive Industriepolitik für die Chemiebranche bedeutet auch die Förderung von Zukunftsarbeitsplätzen. Wir müssen mit unseren Produkten besser, nicht billiger sein als andere. Innovationen und neue Technologien sind daher der Garant für die starke Wettbewerbsfähigkeit der baden-württembergischen Industrie. In der Chemiebranche ist die Biotechnologie ein Schlüssel für zukünftige Wettbewerbsstärke. Sowohl die weiße als auch die rote Biotechnik haben erhebliches Wachstumspotenzial. Mit seinen 5 Bio-Regionen droht eine Verzettelung dieser Cluster-Förderung in Baden-Württemberg. Statt für alle ein bisschen, sollte die Landesregierung den Mut haben, die Förderung zu konzentrieren. Im „Bio-Valley“ entlang der Rheinschiene könnte sich ein starker Biotechnologie-Cluster entwickeln, der im internationalen Wettbewerb ganz vorne mit dabei ist.
Baden-Württemberg ist auch im Pharmabereich nach wie vor gut vertreten. Mit Roche Diagnostics in Mannheim, Boehringer/Ingelheim in Biberach, Altana in Konstanz, Pfizer in Karlsruhe und Freiburg und vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen ist das Potenzial für zukunftsträchtige Arbeitsplätze besonders hoch. Die auf Bundesebene auf Anregung der IGBCE eingerichtete „Task Force Pharma“ könnte beispielhaft für eine entsprechende Initiative auf Landesebene sein.
Gerechte Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft: Tarifautonomie, Mitbestimmung und Betriebsverfassung
Für die SPD-Landtagsfraktion sind Betriebsräte und Gewerkschaften wichtige Partner bei der Bewältigung der ökonomischen und sozialen Herausforderungen, denen sich die Betriebe Baden-Württembergs stellen müssen. Die Ankündigungen von Ministerpräsident Oettinger in seiner Regierungserklärung, das Tarifvertragsrecht und das Betriebsverfassungsrecht ebenso wie das Mitbestimmungsrecht und den Kündigungsschutz drastisch abzubauen, wird von der SPD heftig kritisiert.
Ralf Stockheim, Landesbezirksleiter der IGBCE, betonte: „Das Klima ist härter geworden. Die soziale Marktwirtschaft wie früher gibt es nicht mehr. Ohne Betriebsräte wäre der Willkür des Arbeitgebers oft keine Grenze gesetzt. Die beiden Säulen Mitbestimmung und Tarifautonomie geben der Arbeit der Betriebsräte Sicherheit und Rüstzeug für die täglichen Auseinandersetzungen mit der Arbeitgeberseite. Ohne eine starke Gewerkschaft ist eine effektive Betriebsratsarbeit nicht möglich. Wir brauchen beide, auch in Zukunft.“
Betriebsräte müssen heute mehr Verantwortung übernehmen. Dem trägt auch das neue, reformierte Betriebsverfassungsgesetz Rechnung. Ob Qualifizierung, Gleichstellung oder Umweltschutz, die Betriebsräte nehmen Einfluss, zum Wohle der Beschäftigten und des Unternehmens. Oft bringen sie die besseren Ideen in das Management ein, weil sie wissen, wie es um die betriebliche Realität bestellt ist.
Die IGBCE ist für den Betriebsrat gerade deshalb ein unverzichtbarer Partner. Auch weil die Gewerkschaften die branchenpolitischen Perspektiven mit der betrieblichen Sicht kombinieren. Für die IGBCE stehen Arbeitsplätze im Mittelpunkt allen Handels. Ihre Tarifpolitik berücksichtigt Konjunktur und Wettbewerbslage. Sie weiß, dass niedrigere Lohnnebenkosten Beschäftigung fördern und richtet ihre Politik daran aus. Sie tritt ein für eine Steuerpolitik, die den Aufschwung fördert. Sie fordert Erneuerung nicht allein auf einzelnen Feldern, sondern als Gesamtkonzept, das die Industrie- und Energiepolitik ebenso umfasst wie Bildung und Weiterbildung. Dies ist auch die Voraussetzung zur Stabilisierung der sozialen Marktwirtschaft und zur Sicherung des Wohlstands.
Industrieller Strukturwandel erfordert moderne Bildung und Weiterbildung
Der industrielle Strukturwandel ist in vollem Gang. 1974 waren noch 2,3 Millionen Baden-Württemberger im gesamten produzierenden Bereich (einschließlich Baugewerbe) erwerbstätig. Heute sind es 400.000 weniger. Das ist ein Rückgang um 17%. Gleichzeitig sind heute 1,3 Millionen Baden-Württemberger mehr im Dienstleistungsbereich tätig als 1974. Das entspricht einem Anstieg um 78%. Einfache Arbeitsplätze gehen verloren, neue und wissensintensive Arbeitsplätze entstehen.
Die Menschen, die von diesem Wandel der Anforderungen betroffen sind, müssen begleitet werden. Wichtig sind dabei genügend betriebliche Ausbildungsplätze, damit dem in manchen Bereichen bereits heute bestehenden und in Zukunft sich noch verschärfenden Fachkräftemangel begegnet werden kann. Entscheidend ist es jedoch, den jungen Menschen, die in den Beruf gerade erst einsteigen, eine echte Zukunftsperspektive zu bieten. Die Tarifparteien der Chemiebranche haben mit ihrem Ausbildungs-Tarifvertrag vorbildlich auf diese Herausforderung reagiert. Jahr für Jahr soll die Zahl der Ausbildungsplätze nach einem fest vereinbarten Prozentsatz ansteigen. Auch für die kommende Tarifrunde fordert die Tarifkommission der IGBCE eine erneute Anhebung der Ausbildungsplätze.
Ein großes Hemmnis bei der Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze ist die fehlende Qualifikation vieler Schülerinnen und Schüler. Das baden-württembergische Schulsystem ist nicht in der Lage, die Jugendlichen ausbildungsfähig zu qualifizieren. Das ist ein echtes Alarmsignal für den Industriestandort Baden-Württemberg. Es ist zugleich ein soziales und ein ökonomisches Problem, denn die betroffenen Jugendlichen werden die Arbeitslosen von morgen sein. Sie haben kaum eine Perspektive auf einen Arbeitsplatz, mit dem sie ihr eigenes Leben selbstbestimmt gestalten können.
Dringend erforderlich ist deshalb eine grundlegende Reform des baden-württembergischen Schulsystems. Die SPD-Fraktion hat hierfür Vorschläge gemacht, die u.a. längeres gemeinsames Lernen und einen bedarfsgerechten Ausbau der Ganztagsschulen vorsieht. Notwendig ist die individuelle Förderung jedes einzelnen Schülers, weil wir es uns nicht leisten können, Wissenspotenziale brach liegen zu lassen. Und schon der Kindergarten muss seinem Bildungsauftrag gerecht werden und von Anfang an Sprachförderung anbieten.
Nicht nur für den Nachwuchs, sondern auch für die bereits Beschäftigten, besteht Handlungsbedarf. Der Tarifvertrag der Chemiebranche zur Weiterbildung bietet eine gute Möglichkeit, die Chancen auf eine nachhaltige Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern. Doch die Möglichkeiten des Tarifvertrags werden noch viel zu wenig genutzt. Hier könnte die Landespolitik einen Beitrag zur Initialzündung liefern, beispielsweise durch eine Förderung über ESF-Mittel.
Stefan Fluri
Pressesprecher IG BCE Baden-Württemberg