Wir fordern:
- Barrierefreier, bezahlbarer Wohnraum im Ortskern, in kleinen und mittleren Kommunen, idealerweise einhergehend mit einer Quartiersaufwertung, ist der am dringendsten benötigte Wohnraum und muss zuerst gefördert werden.
- Entsprechende neue Wohneinheiten sollen grundsätzlich im Mehrgeschossbau oder als Nachverdichtung in Kernortslagen geschaffen werden.
- Die neu geschaffenen Einheiten sollen zugleich als soziale Orte für Menschen im Dorf, der Kleinstadt oder im Quartier nutzbar sein. Deswegen müssen die geförderten Gebäude Gemeinschaftsflächen und gemeinsam nutzbare Räume vorsehen. Dies können Orte zur Ausübung sportlicher oder gesellschaftlicher Aktivitäten, für Nahversorgung, kommunale oder soziale Einrichtungen, Cafés oder Stätten der Begegnung sein.
- Geeignete Flächen in Ortskernen sollen für eine entsprechende privilegierte Nutzung grundsätzlich genehmigungsfähig sein.
- Es muss ein aktiver Austausch der Landesregierung mit den Kirchen über eine gemeinsame Strategie zur zukünftigen Nutzung von Kirchenflächen in Ortskernen und Kooperationsmodellen etabliert werden.
1. Ausgangslage
Für viele Menschen ist es selbstverständlicher Teil ihrer Lebensrealität: Tritt man in eine neue Lebensphase ein, ändert sich die Wohnform. Während der Schule wohnt man meist mit den Geschwistern bei den Eltern. Auszubildende und Studierende ziehen in die erste eigene Wohnung, eine Wohngemeinschaft oder ein Wohnheim. Oft folgt dann der Zusammenzug mit eine:r Partner:in. Und spätestens mit den ersten Kindern beginnt für viele die Suche nach einer größeren Wohnung oder einem eigenen Haus. Kurz gesagt: Mit einem Wechsel der eigenen Wohnumstände reagieren wir auf äußere Umstände und passen Wohnort, Wohnfläche und Wohnungszuschnitt an unsere Bedürfnisse an.
Die Wohnung wächst, schrumpft aber nicht mit
Dieser Prozess endet jedoch vielfach nach dem Auszug der eigenen Kinder: Oft wird Wohnraum, der zuvor für eine ganze Familie ausreichte – häufig drei, vier, fünf oder noch mehr Erwachsene – nur noch von ein oder zwei Personen genutzt. Oft stehen Räume oder ganze Stockwerke leer und werden allenfalls sporadisch genutzt. Der Erhalt der Immobilie ist aufwendig und kostspielig. Die Lage in der Einfamilienhaussiedlung im alten Neubaugebiet am Ortsrand ist hinsichtlich Erreichbarkeit nicht optimal und Barrierefreiheit wurde bei Bau oder Erwerb der Immobilie selten mitgedacht. Gleichzeitig wandeln sich mit unserer sich verändernden körperlichen Leistungsfähigkeit auch die Anforderungen an Wohnraum. Ehemals einfache Tätigkeiten im Alltag werden zunehmend mühsamer. Noch weit von einer Pflegebedürftigkeit entfernt werden wir durch Probleme beim Treppensteigen, Sturzgefahr, nachlassendes Seh- und Hörvermögen und andere alterstypische Leiden in unserer individuelle Mobilität zunehmend eingeschränkt.
Im Alter allein zu Haus
Der „Single-Haushalt“ ist in Deutschland seit vielen Jahren die vorherrschende Wohnform[1]. Der Begriff ist aber irreführend: Bei vielen dieser Haushalte handelt es sich nicht um junge Menschen in einer Lebensphase der selbstbestimmten Partner:innensuche, sondern um ältere Menschen, die getrennt von ihren langjährigen Partner:innen leben oder deren Partner:in bereits verstorben ist. Statt „Trautes Heim – Glück allein“ bleibt oft nur ein „Allein im Alter“. Dazu kommen die oben genannten körperlichen Beeinträchtigungen , die ehemals selbstverständliche Wege zu sozialen Treffpunkten zu aufwendigen Unternehmungen oder schließlich ganz unmöglich machen. Laut Einsamkeitsbarometer des BMFSFJ war die Gruppe der Personen über 75 Jahren zwischen 1992 und 2013 durchgängig häufiger einsam als alle jüngeren Gruppen. Dieselbe Studie nennt als Faktoren, die Resilienz gegenüber Einsamkeit stärken: Teilhabe in Vereinen und Kirchen, die Nutzung kultureller Angebote und insbesondere persönliche Beziehungen.
Umzug ist (k)ein Ausweg
Entlastung kann der Umzug in eine kleinere, barrierefreie Wohnung bieten. Idealerweise ist diese zentral gelegen und erhöht damit die Erreichbarkeit von Orten der Begegnung und des täglichen Bedarfs. Die hochgradig individuelle Entscheidung zum Umzug scheitert jedoch oftmals an handfesten Hindernissen. Im Vergleich zu Bestandsmieten sind Mieten bei Neuverträgen oft unverhältnismäßig teuer und es fehlt an barrierefreiem Wohnraum[2] im Wohnort. Ein Umzug in einen weiter entfernten Ort aber ist aufwendig und unattraktiv. FürBetroffene ein „Lock-In-Effekt“. Dazu kommen persönliche Faktoren: Am Wohnort finden sich soziale Bezugspunkte wie Freunde, Familie, Vereine, genau so wie liebgewonnene Orte wie Cafés, Parks oder kulturelle Aktivitäten und Infrastruktur wie Lebensmittelhandel, Apotheken und Ärzt:innen.
Was auch immer individuellen Motive auch sind, Fakt ist: Kaum eine Person gibt die Sicherheit einer vertrauten Umgebung gerne auf, wenn dafür ein Umzug weit weg in eine kleinere Wohnung zu höheren Kosten notwendig ist.
„Vierköpfige Familie sucht dringend…“
Parallel dazu fehlt landesweit Wohnraum für Familien. Und so steigt auch der Druck auf Kommunen, wichtige Flächen weiter als Wohngebiete für Ein- und Zweifamilienhäuser auszuweisen. Dies wiederum zieht hohe Investitionen in Straßen, ÖPNV und andere nach sich und engt Handlungsspielräume ein. Wer den „Donut-Effekte“, das Aussterben des Ortskerns und Verfranzen in die Außenbereiche, in kleinen und mittleren Kommunen verhindern will, muss Wohnräume effizienter nutzbar machen und in die Belebung von Ortsmitten investieren.
Aktuelle Wohnraumförderung: Eine löchrige Gießkanne
Die Wohnraumförderung in Baden-Württemberg soll mehr sozialen Wohnraum ermöglichen und den Erwerb eines Eigenheims unterstützen. Die verfügbaren Mittel sind für eine flächendeckende Wirkung aber viel zu gering und es gibt keine Priorisierung von Anträgen. Über eine Förderung entscheidet der Eingangsstempel. Bauprojekte mit einer objektiv höheren gesellschaftlichen Bedeutung werden nicht priorisiert. Das muss sich ändern. Denn es spielt in der chronisch angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt eben doch eine Rolle, welche Art von Wohnraum zuerst entsteht.
2. „Barrierefreier Wohnraum im Ortskern First“
Die allgemeine Situation am Wohnmarkt gestaltet sich wie beschrieben: Lock-In-Effekte für ältere Mieter:innen und Eigentümer:innen, zunehmende Einsamkeit im Alter, Wohnraummangel für alle Menschen, speziell Familien, kaum Angebot an altersgerechtem, barrierefreiem Wohnraum.
Da setzen wir an!
Wir fordern, barrierefreier, bezahlbarer Wohnraum im Ortskern, in kleinen und mittleren Kommunen, der mit einer Quartiersaufwertung einhergeht, ist der am dringendsten benötigte Wohnraum und muss zuerst gefördert werden.
Dieser soll im Mehrgeschossbau und im Kernort als Nachverdichtung entstehen. Entsprechende Projekte sollen gemeinschaftlich nutzbare Flächen und Räume enthalten. Eine solche Nutzung soll auf geeigneten Flächen in Ortskernen privilegiert genehmigungsfähig sein. Um den Ausbau in flächensparender, verdichteter Mehrgeschossbauweise zu ermöglichen, sollen in den Kommunen entsprechende Flächen im Flächennutzungsplan dahingehend privilegiert werden, dass auch abweichend von der umgebenden Bebauung die verdichtete Bauweise grundsätzlich ermöglicht wird. Wo dem Bundes- und Landesgesetze entgegenstehen, sollen sie mit diesem Ziel.
Attraktiv Wohnen
Werden in kleineren und mittleren Kommunen zwischen 1.000 und 10.000 Einwohnern mehr attraktive, barrierefreie Wohnungen geschaffen, haben Menschen die Möglichkeit, am Wohnort in eine altersgerechte Wohnung einzuziehen, und geben gleichzeitig Wohnraum frei, den Familien nutzen können. Das soziale Umfeld, Verein, Kirche, Verwandte und Freunde, bleiben so in erreichbarer Nähe, da im Idealfall nur innerhalb des Wohnortes umgezogen werden muss. Begleitung oder ambulante Versorgung können in Anlagen mit mehreren solcher Wohneinheiten profitabel gewährleistet und lange ein Wohnen am selben Ort ermöglicht werden. Durch Architektur und Einbindung in die Wohngemeinde kann Einsamkeit bekämpft werden.
Folgeeffekte
Freiwerdende Immobilien können ein gutes Zuhause für neue Familien werden. Bei Kauf lohnt sich eine energetische Sanierung, da mit einer langen Nutzungsdauer gerechnet werden kann. Dies erhöht die Sanierungsquote und trägt damit zum Erreichen der Klimaziele im Gebäudesektor bei. Im Gegensatz zu einer sehr späten, oft überhasteten Aufgabe eines Hauses im Alter, beispielweise durch einen Unfall, plötzliche Pflegebedürftigkeit oder Tod, kann ein geregelter Übergang lange Leerstände und Erbstreitigkeiten verhindern.
Ortskerne werden durch die neuen Wohneinheiten aufgewertet und erhalten zudem für die Gemeinschaft nutzbare Infrastruktur wie Bäckereien, Cafés, Nahversorger, einen Servicetreff der Kommune oder nutzbare Räume für gesellschaftliches Leben. Leerstehende Gebäude und Brachen können so umgenutzt werden und geben dem Ortskern ein lebendiges Gesicht.
Eine mögliche neue Partnerschaft mit den Kirchen
Durch die Veränderung in der kirchlichen Landschaft stehen die Kirchen vor großen Umbrüchen. Als Eigentümerinnen vieler zentral gelegener Immobilien und Grundstücke kann den Kirchen eine große Rolle mit Blick auf die Versorgung von bedürftigen Menschen mit Wohnraum zukommen.
Alle verfassten Kirchen in Baden-Württemberg durchlaufen große Veränderungsprozesse und planen, in den nächsten fünf bis zehn Jahren einen großen Teil ihrer Grundstücke und Gebäude abzugeben oder anders zu nutzen. In manchen Kommunen müssen kirchliche Grundstücke und Gebäude in Ortskernen einer neuen Nutzung zugeführt werden.
Die ehemaligen Liegenschaften der Kirchen eignen sich aber oft ideal, um den Bau von Wohnprojekte im Sinne des vorgenannten, mit Wohnraumförderung zu unterstützenden, barrierefreien, bezahlbaren Wohnraums zu realisieren. Bei zielgerichteter Vergabe bieten sie große Chancen. Positiver Nebeneffekt einer entsprechenden Bau- oder Pachttätigkeit der Kirchen wäre, dass weiterhin Formen kirchlichen Lebens in der Kommune und der Fläche möglich sind.
[1] Etwa 41% der Haushalte sind bundesweit Single-Haushalte. Dies ist auch etwa der Anteil in Baden-Württemberg.
[2] Einer aktuellen Studie des Pestel-Instituts zufolge fehlen in Deutschland 2023 2,2 Millionen altersgerechte Wohnungen.
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