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1. Aktuelle Problemlage

In Deutschland lebten 2023 insgesamt etwa 5,6 Millionen Pflegebedürftige. In Baden-Württemberg waren im Jahr 2021 etwa 540 401 Personen pflegebedürftig; nach Prognosen steigt diese Zahl bis 2060 auf über 800 000 an.

Etwa 92 000 der Pflegebedürftigen in Baden-Württemberg, zumeist solche mit einem höheren Grad der Hilfebedürftigkeit, leben in Pflegeheimen oder Pflege-WGs. Etwa 290 000 leben zu Hause und werden von Angehörigen unterstützt. Weitere knapp 94 000 leben auch zu Hause und erhalten (zusätzlich) Hilfe von ambulanten Pflegediensten. Die Pflegebedürftigen haben Anspruch auf verschiedene Sozialleistungen. Am bedeutendsten sind die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, die nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit gestaffelt sind.

In der Versorgung der Pflegebedürftigen bestehen insbesondere die folgenden großen Problemfelder:

  • Aufgrund des Anstiegs der Zahl der Pflegebedürftigen, ihres längeren Lebens bei Pflegebedürftigkeit und aufgrund von Leistungsausweitungen, darunter eine deutlich bessere Vergütung der Beschäftigten und mehr Stellen in der Pflege, nehmen die Ausgaben in der Pflegeversicherung immens zu.
  • Selbst bei einer Sicherstellung der Finanzierung dürfte es sehr schwerfallen, zukünftig genügend Hilfs- und Fachkräfte in der Pflege zu gewinnen, die für die steigende Anzahl der Pflegebedürftigen ausreichen. Schon heute stehen Betten in Pflegeheimen leer, weil ihre Träger nicht ausreichend Personal finden. Ambulante und teilstationäre Dienste können aufgrund von Personalmangel keine neuen Pflegebedürftigen
  • Angehörige, die längerfristig die Pflege ihrer Angehörigen übernehmen, insbesondere Eltern
    (-teile) von pflegebedürftigen Kindern, haben häufig nicht genügend anderes Einkommen oder Vermögen, um sich die Pflege „leisten zu können“. Für sie steigt das Risiko erheblich, von Armut betroffen zu sein sowie im Alter nur niedrige Renten zu erhalten.

2. Stärkung der pflegenden und betreuenden Angehörigen

2.1 Die aktuelle Situation

Typischerweise werden Pflegebedürftige durch ihre Angehörigen unterstützt bzw. gepflegt – insbesondere durch die (Ehe-) Partner*innen. Pflegende Personen, die schon eine Rente beziehen, sind vielfach durch ihre Altersversorgung finanziell abgesichert. Für pflegende Angehörige, die erwerbstätig sind, ist es oft auch wirtschaftlich dramatisch einschneidend, viel Zeit für die Pflege aufzuwenden und diese längerfristig durchzuführen, denn sie brauchen das Einkommen aus der Erwerbstätigkeit für ihren Lebensunterhalt und auch für ihre Sozialversicherungen. Dafür gibt es bei Pflegebedürftigen mit mindestens Pflegegrad 2 – ergänzt durch Entlastungen mit anderen Wirkungen auch im Hinblick auf (unbezahlte) Freistellungen – bisher lediglich die folgenden Hilfen:

  • Leistungen aus dem Pflegegeld: Die Pflegebedürftigen können einen Teil oder das gesamte monatliche Pflegegeld (347 bis 990 Euro je nach Pflegegrad) für ihre pflegenden Angehörigen verwenden.
  • Leistungen zur sozialen Sicherung
    • Pflegende Angehörige, die wenigstens zehn Stunden pro Woche pflegen, erhalten Beiträge zur Rentenversicherung, wenn sie nicht mehr als 30 Stunden wöchentlich erwerbstätig sind
    • Es besteht eine Unfallversicherung für die Pflege.
    • Für Personen, die aus dem Beruf aussteigen, um die Pflege von Angehörigen zu übernehmen, werden Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für die gesamte Dauer der Pflege gezahlt.

Ein kleinerer Teil der Angehörigen, deren Anzahl etwa 5 % der Pflegegeldempfangenden entspricht, entscheidet sich dafür, seine Erwerbstätigkeit aufzugeben bzw. zu unterbrechen oder sie erheblich zu reduzieren. In der Regel haben die Angehörigen dadurch einen hohen finanziellen Verlust, nicht nur aktuell, sondern auch bei ihrer späteren Rente. Ein anderer Teil der Angehörigen kann oder will sich einen solchen Einkommensverlust jedoch nicht leisten.

2.2 Mehr Angehörigen mit einem Gehalt für pflegende und betreuende Angehörige eine umfassende Pflegetätigkeit ermöglichen

Um Armut durch Pflege zu verhindern, bestehende Familienstrukturen zu stärken, die Leistung der Pflegenden anzuerkennen sowie professionelle pflegerische Versorgungsstrukturen zu entlasten, muss nach Ansicht der SPD-Landtagsfraktion mehr Angehörigen eine umfassende Pflegetätigkeit ermöglicht werden. Für pflegende und betreuende Angehörige im erwerbsfähigen Alter bedarf es in Baden-Württemberg eines sozialversicherungspflichtigen Anstellungsmodells in der Zuständigkeit des Landes. Es wird ausdrücklich betont, dass die Pflege und Betreuung durch Angehörige keine professionalisierte Pflege durch Fachkräfte ersetzen kann, sondern ergänzt. Das Gehalt für pflegende und betreuende Angehörige entlastet die professionelle Pflege durch Fachkräfte und kann eine umfängliche Inanspruchnahme professioneller Pflege zeitlich nach hinten verlagern. Dieser Vorschlag orientiert sich am Anstellungsmodell im österreichischen Burgenland, das dort von der SPÖ-Landesregierung eingeführt wurde.

Das Anstellungsmodell für pflegende und betreuende Angehörige wird als Vorreiterangebot in Deutschland wissenschaftlich begleitet und evaluiert.

Perspektivisch wirken wir darauf hin, dass im Pflegeversicherungsrecht des Bundes auch die Möglichkeit einer solchen landesrechtlichen Lösung samt entsprechender Verknüpfungen zu den Leistungen der Pflegeversicherung eingeführt werden. Das würde die Kosten für den Landeshaushalt deutlich senken, denn dann könnten mehr Leistungen der Pflegeversicherung zur direkten Gegenfinanzierung des Pflegegehaltes genutzt werden. Ebenso könnte auch auf der Ebene des Bundes ein Pflegegehalt eingeführt werden. Dazu hat insbesondere der unabhängige Beirat beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf im Jahr 2023 einen umfassenden Vorschlag für ein steuerfinanziertes Familienpflegegeld als Lohnersatzleistung vorgelegt. Dieser wurde insbesondere von Verbänden aus der freien Wohlfahrtspflege (Diakonie, AWO, DRK usw.), der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen sowie dem DGB und dem dbb beamtenbund unterstützt. Ganz vehement fordert auch der Sozialverband VdK Deutschland eine solche Leistung.

2.3 Begründung im Detail

1. Anerkennung und Wertschätzung der Pflegearbeit

Pflegende Angehörige übernehmen oft eine Vollzeitpflege und tragen die Hauptverantwortung für die Versorgung und Betreuung ihrer pflegebedürftigen Familienmitglieder. Diese Arbeit wird jedoch häufig als selbstverständlich betrachtet und nicht als formelle Erwerbsarbeit anerkannt. Ein Anstellungsmodell würde diese Arbeit als gleichwertig zu anderen beruflichen Tätigkeiten anerkennen und pflegenden Angehörigen die Wertschätzung und Anerkennung zuteilwerden lassen, die sie verdienen.

2. Finanzielle Absicherung

Viele pflegende Angehörige geben ihre berufliche Tätigkeit auf oder reduzieren ihre Arbeitszeit erheblich, um sich um pflegebedürftige Angehörige zu kümmern. Dadurch verlieren sie Einkommen und finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit. Ein Anstellungsmodell wird ermöglichen, dass pflegende Angehörige für ihre Arbeit fair entlohnt werden, was finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit gewährleisten könnte.

3. Soziale Absicherung und Rentenansprüche

Die Pflege von Angehörigen ist oft mit einer Unterbrechung oder Reduzierung der Erwerbstätigkeit verbunden, was sich negativ auf die Rentenansprüche der pflegenden Person auswirkt. Ein Anstellungsmodell wird gewährleisten, dass pflegende Angehörige sozial abgesichert sind, Rentenansprüche erhalten und für ihre Arbeit als Pflegekraft entsprechende Beiträge in die Sozialversicherungssysteme einzahlen.

4. Professionalisierung der häuslichen Pflege

Durch ein Anstellungsmodell werden pflegende Angehörige besser in Pflegeprozesse eingebunden und professionell unterstützt. Dies wird zu einer qualitativ hochwertigeren Pflege durch Angehörige führen und diesen mehr Sicherheit in ihrer Tätigkeit geben. Sie werden Zugang zu Schulungen, Beratungen und Supervisionen haben, was die Belastung verringern und die Pflegequalität erhöhen wird. Ziel ist zudem, dass sich mit den Erfahrungen aus dieser Pflege auch einige dieser pflegenden Angehörigen für eine Beschäftigung in der professionellen Pflege entscheiden.

5. Entlastung des Pflegesystems

Das professionelle Pflegesystem ist überlastet und der Mangel an Pflegepersonal wird in vielen Regionen immer deutlicher. Ein Anstellungsmodell wird Möglichkeiten eröffnen, dass pflegende Angehörige für einen nicht unbedeutenden Teil der Pflegebedürftigen die Pflege übernehmen und damit an dieser Stelle das professionelle Pflegesystem entlasten.

6. Baden-württembergischer Impuls zur Pflegepolitik

Die Länder sind nach § 9 SGB XI verantwortlich für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur. Dies gilt vor allem für die Investitionen in der teilstationären und stationären Pflege, aber auch in der Ausbildung von Pflegekräften oder Beratungsangeboten. Solange die Länder durch das Bundesrecht nicht beschränkt werden, können sie aber auch eigenständige Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung in den privaten Haushalten der Pflegebedürftigen beschließen. So gibt es zum Beispiel in Bayern das Landespflegegeld. Im Ländervergleich liegen die Ausgaben in Baden-Württemberg pro Pflegebedürftigen in unteren Bereich.

7. Besondere Dringlichkeit in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg herrscht im Vergleich zu den anderen Bundesländern der höchste Mangel an Pflegefachkräften. Zugleich ist der Eigenanteil in der stationären Pflege mit zuletzt durchschnittlich 3 479 Euro pro Monat am höchsten. Ergänzende Angebote zur professionellen Pflege werden deshalb dringend benötigt.

2.4 Kreis der möglichen Berechtigten für das Anstellungsmodell

Das Konzept der SPD-Landtagsfraktion sieht vor, dass das Gehalt pflegende und betreuende Angehörige im erwerbsfähigen Alter erhalten, die Pflegebedürftige mit Pflegegrad 3 bis Pflegegrad 5 im häuslichen Umfeld in dem vereinbarten Umfang pflegen und betreuen. Zu den Anspruchsberechtigten zählen:

  • (Ehe-) Partner*innen
  • Kinder,
  • Schwiegerkinder
  • Eltern,
  • Großeltern

Es muss nachgewiesen werden, dass die häusliche Pflege und Betreuung tatsächlich erbracht werden. Teilstationäre oder stationäre Pflegeleistungen für den Pflegebedürftigen sind während des Bezugs des Pflegegehalts nur im Verhinderungsfall (Krankheit und Urlaub) möglich. Die Leistung ist zunächst auf zwei Jahre befristet und kann – nach Prüfung – verlängert werden. Rentenbezieher*innen erhalten zu ihrer Rente das Pflegegeld aus der Pflegeversicherung.

2.5 Zur Höhe des Pflegegehalts

Der Pflegegrad der Pflegebedürftigen soll nach Ansicht der SPD-Landtagsfraktion die Höhe des Pflegegehalts und die Anzahl der erforderlichen bzw. bezahlten Stunden bestimmen. Die Vergütung könnte ausgehend vom allgemeinen Mindestlohn wie folgt gestaffelt sein:

Pflegegrad 3: 20 Stunden pro Woche                              Brutto-Vergütung: 1 150 Euro/Monat

Pflegegrad 4: 30 Stunden pro Woche                               Brutto-Vergütung: 1 700 Euro/Monat

Pflegegrad 5: 40 Stunden pro Woche                              Brutto-Vergütung: 2 250 Euro/Monat

Bei allen Pflegegraden besteht zudem die Möglichkeit einer Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigung, so dass die Arbeitszeit flexibel an die individuellen Bedürfnisse und Verfügbarkeiten angepasst werden kann. Die Bedarfe für eine Vollzeitbeschäftigung bei Pflegegrad 3 und 4 müssen gesondert begründet werden.

2.6 Die Absicherung der pflegenden Angehörigen

Das Anstellungsmodell der SPD-Landtagsfraktion sieht vor, dass pflegende und betreuende Angehörige wie alle anderen Beschäftigten eine umfassende soziale Absicherung erhalten – also Kranken- und Pflegeversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Unfallversicherung.

Pflegende und betreuende Angehörige erhalten dann auch den gesetzlichen Urlaubsanspruch sowie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Für die Absicherung der Pflege müssen dann heute schon übliche Instrumente insbesondere der Verhinderungspflege und der Kurzzeitpflege genutzt werden. Das ist notwendig, um sie vor Überlastung zu schützen.

Pflegende und betreuende Angehörige erhalten zudem professionelle Schulungen und Unterweisungen, um die Versorgungsqualität zu gewährleisten. Die bestehenden Beratungsangebote insbesondere der ambulanten Dienste, der Pflegekassen, der Kommunen und der Pflegestützpunkte werden um die Beratung zum Anstellungsmodell ergänzt.

3. Zur Finanzierung des Pflegegehalts

Das Pflegegehalt wird aus folgenden Mitteln finanziert

  • dem Pflegegeld der Pflegebedürftigen, soweit es nicht durch Hilfen aufgebraucht wird, die nur Pflegefachkräfte erbringen dürfen sowie
  • einer Landesförderung von etwa 100 Millionen Euro pro Jahr

Einsparungen ergäben sich vor allem durch die Vermeidung von ambulant erbrachten Pflegesachleistungen sowie sehr kostenintensiver Heimunterbringung. In Baden-Württemberg kostet ein Heimplatz einschließlich Unterkunft und Verpflegung je nach Pflegegrad etwa 5 000 bis 6 500 Euro monatlich. Die Einsparungen entfielen zum Teil auf die Pflegebedürftigen selbst (Eigenanteil insbesondere im Heim), zum Teil aber auch auf die Pflegeversicherung oder die Sozialhilfe. Solange entsprechende Regelungen nicht im Pflegeversicherungsgesetz stehen, können die dortigen Einsparungen allerdings nicht die Kosten für den Landeshaushalt senken.

Das Pflegegehalt wird auf der Grundlage des Mindestlohnes berechnet. Bei der zu gründenden Landes-agentur fallen Arbeitgeberkosten an. Das Pflegegeld der Pflegebedürftigen wird auf das Netto-Gehalt der Angehörigen angerechnet. Von den Pflegebedürftigen sollen zudem „Servicekosten“ vergleichbar zur Eigenbeteiligung eingebracht werden. Mit 600 Euro pro Jahr sind diese aber bedeutend geringer als insbesondere die Eigenbeteiligung an den Heimkosten. Die angenommene Inanspruchnahme des Anstellungsmodells beruht auf Erfahrungswerten aus dem Burgenland, Rücksprachen mit Pflegekassen sowie statistischen Zahlen.

4. Verwaltung des Anstellungsmodells

Das Anstellungsmodell mit dem Pflegegehalt würde die Einführung einer neuen rechtlichen Struktur erfordern. Insbesondere müsste eine Arbeitgeberstruktur etwa in Form eine selbstständigen Landesagentur für die Anstellung von pflegenden Angehörigen geschaffen werden. Die Landesagentur würde dann die pflegenden Angehörigen beschäftigen, die erbrachten Leistungen kontrollieren, die Vergütung auszahlen, Sozialversicherungsbeiträge und Steuern abführen sowie Schulungsangebote anbieten. Sollten entsprechend Verknüpfungen im Pflegeversicherungsrecht des Bundes beschlossen werden, könnte die Landesagentur auch unter einem gemeinsamen Dach des Landes und der Landesverbände der Pflegekassen stehen.

8. Januar 2025

Ansprechpartner

Klose Fraktion
Roland Klose
Berater für Sozial- und Gesundheitspolitik