Wolfgang Drexler und Winfried Kretschmann: „Reform des Föderalismus muss die Rechte der Länderparlamente stärken“

Die Vorsitzenden der Landtagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in Baden-Württemberg, Wolfgang Drexler und Winfried Kretschmann, haben sich nachdrücklich dafür ausgesprochen, im Zuge einer Reform des Föderalismus vor allem auch die Rechte der Länderparlamente zu stärken. Die beiden Politiker gehören zu den Mitunterzeichnern eines Positionspapiers von Fraktionsvorsitzenden der SPD, der Grünen, der CDU und der FDP aus den Bundesländern Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Schleswig-Holstein und Berlin. (vgl. Anlage). Drexler und Kretschmann gehören für die Landtage als beratende Mitglieder der Föderalismus-Kommission von Bundestag und Bundesrat an.

Die beiden Fraktionschefs betonten, die Länderparlamente müssten auch bei den Beratungen der Föderalismus-Kommission „geschlossen für eine Reform der bundesstaatlichen Ordnung eintreten, welche die Interessen der Landtage hinreichend berücksichtigt“. Andernfalls liefen sie Gefahr, so Drexler und Kretschmann, „dass der Bund und die Landesregierungen ihre Interessen einseitig zu Lasten der Landtage durchsetzen.“

Drexler und Kretschmann kritisierten übereinstimmend, dass sich der ursprüngliche Gestaltungsföderalismus zu einem „bloßen Beteiligungsföderalismus“ reduziert habe, in dem die Landesparlamente die eigentlichen Verlierer seien. Diese Fehlentwicklung gelte es bei einer Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung zu korrigieren.

Drexler und Kretschmann: „Das stetige Aushöhlen der Länderkompetenzen muss beendet werden. Wir fordern, die Landtage als eigenständige Gesetzgebungsorgane zu stärken.“

Einzelheiten ihrer Pläne für eine Reform des Föderalismus wollen die beiden Fraktionsvorsitzenden auf einer Landespressekonferenz am Freitag dieser Woche im Stuttgarter Landtag präsentieren.

Das Positionspapier der Fraktionsvorsitzenden der Landtage in der Föderalismus-Kommission hat folgenden Wortlaut:
Wolfgang Drexler (Vorsitzender der Fraktion der SPD im Landtag Baden-Württemberg), Jörg-Uwe Hahn (Vorsitzender der Fraktion der FDP im Hessischen Landtag), Martin Kayenburg (Vorsitzender der Fraktion der CDU im Landtag Schleswig-Holstein), Winfried Kretschmann (Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag Baden-Württemberg), Volker Ratzmann (Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus Berlin), Dr. Jürgen Rüttgers (Vorsitzender der Fraktion der CDU im Landtag Nordrhein-Westfalen), Dr. Ingo Wolf (Vorsitzender der Fraktion der FDP im Landtag Nordrhein-Westfalen)

Die Reform des Föderalismus

I.
Der Föderalismus hat sich in Deutschland grundsätzlich bewährt. Er verbindet die geschichtliche, politische, kulturelle, ökonomische, landsmannschaftliche und strukturelle Vielgestaltigkeit der Länder mit der solidarischen Verantwortlichkeit für das staatliche Ganze.

Aufgrund der Unitarisierung der Politik, der Ausprägung des Exekutivföderalismus, der Gefahr einer parteipolitischen Inanspruchnahme des Bundesrates und der Verflechtung der staatlichen Ebenen sind jedoch erhebliche Einbußen an Effizienz, Transparenz und demokratischer Legitimation zu verzeichnen. Manche sprechen daher bereits von einem Schein-Föderalismus. Reformen sind also dringend geboten.

Auf allen Ebenen werden derzeit Modelle für eine Reform der föderalen Struktur Deutschlands diskutiert. Ziele sind Entflechtung, Transparenz, Subsidiarität und Wettbewerb. Es herrscht Einigkeit, dass eine umfassende Neuordnung der bisherigen Entscheidungsstrukturen zwischen Bund, Ländern und Kommunen unumgänglich ist. Politische Entscheidungen müssen für den Bürger wieder nachvollziehbar werden und Verantwortlichkeiten klar zurechenbar sein. Nur so ist verantwortungsbewusste Politik zu gewährleisten.

Das verkrustete System des kooperativen Föderalismus hemmt Innovationen im öffentlichen und privaten Bereich. Nur wenn es gelingt, die verschiedenen Formen von Mischverantwortungen, Gemeinschaftsaufgaben und finanziellen Verflechtungen aufzulösen, erhalten alle Ebenen wieder eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten.

Jede Einheit braucht eine ausreichende Leistungskraft, die sie in die Lage versetzt, den vorhandenen Raum nutzen zu können. Und jede Einheit braucht Anreize, ihre Potentiale einzusetzen. Sie muss die Folgen ihres Handelns wie Nichthandelns spüren. Effektivität und Kreativität setzen einen Wettbewerb um die beste politische Lösung voraus.

Unbestritten verfügen die Länder derzeit nicht über das Kompetenzspektrum, um die entscheidenden Politikfelder zu gestalten und sich auf diesen Gebieten einen effizienten Wettstreit zu liefern. Der kooperative Föderalismus führt zu Entscheidungsblockaden und dies zu einer Zeit, in der angesichts rasanter Veränderungen gerade ein hohes Maß an Flexibilität gefragt wäre. Nur ein echter und fairer Standortwettbewerb vermag den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu genügen.

Das Prinzip der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse darf nicht mit Gleichmacherei verwechselt werden. Fairer Wettbewerb setzt Chancengleichheit voraus. Daher soll der Grundsatz der bundesstaatlichen Solidarität nicht außer Kraft gesetzt werden, doch muss Chancengleichheit nicht Ergebnisgleichheit bedeuten. Ein föderales System soll vielmehr Länderautonomie sowie kulturelle, soziale, ökonomische und politische Vielfalt garantieren.

II.
Die Diskussion in der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung kann auf umfangreiche Vorarbeiten zurückgreifen. Seit vielen Jahren werden Vorschläge zur Reform des bundesstaatlichen Systems unterbreitet. Aus jüngster Zeit sind die Ergebnisse der Beratungen der Ministerpräsidentenkonferenz vom 27. März 2003, die Lübecker Erklärung der Landtagspräsidenten und Fraktionsvorsitzenden vom 31. März 2003 sowie die Positionierung des Bundes vom 9. April 2003 zu nennen.

Die Länderparlamente haben mit dem Lübecker Konvent den entscheidenden Grundstein für eine einheitliche Linie aller Landtage gelegt. Die Länderparlamente müssen auch bei den Beratungen der Föderalismuskommission geschlossen für eine Reform der bundesstaatlichen Ordnung eintreten, welche die Interessen der Landtage hinreichend berücksichtigt. Sonst laufen sie Gefahr, dass der Bund und die Landesregierungen ihre Interessen einseitig zu Lasten der Landtage durchsetzen.

III.
Der ursprüngliche Gestaltungsföderalismus hat sich zu einem bloßen Beteiligungsföderalismus reduziert. Die Landesparlamente sind die eigentlichen Verlierer dieses exekutivlastigen Beteiligungsföderalismus. Wer die fortschreitende Schwächung der Landesparlamente stoppt, stärkt die Demokratie. Die Verlagerung von Gesetzgebungszuständigkeiten auf den Bund muss rückgängig gemacht werden. Dies entspricht einer konsequenten Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Das stetige Aushöhlen der Länderkompetenzen muss beendet werden. Wir fordern, die Landtage als eigenständige Gesetzgebungsorgane zu stärken.

Bei der Neuverteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten ist die Kompetenzvermutung der Art. 30 und 70 GG zu beachten. Danach ist die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben grundsätzlich Sache der Länder. Das Regel-Ausnahme-Prinzip des Art. 30 GG gibt für Zweifelsfälle bei der anstehenden Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen eine eindeutige Antwort: Grundsätzlich sind die Länder zuständig.

Der Bund hat von der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 GG in hohem Umfang Gebrauch gemacht. Die bisherigen Materien des Art. 74 GG sollen soweit wie möglich in die ausschließliche Kompetenz des Bundes oder der Länder überführt werden. Nur so schafft man wirkliche Entflechtung und Transparenz. Der Vorschlag des Bundes in seinem Positionspapier vom 9. April 2003, den Ländern die Kompetenzen für das Presserecht, das Jagdwesen und die lokale Freizeitlärmbekämpfung zuzubilligen, reicht bei weitem nicht aus. Die Länder brauchen wieder substantielle Regelungsbefugnisse, die echten Gestaltungsspielraum, wie z.B der Bereich Bildung und Hochschule, beinhalten. Das würde automatisch die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze reduzieren.
Die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG hat sich ebenfalls nicht bewährt. Die Kompetenzen der bisherigen Rahmengesetzgebung müssen dem Grundgedanken der Art. 30 und 70 Grundgesetz entsprechend mit Vorrang für die Länder verteilt werden, um klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu schaffen.

Das Verhältnis des Durchgriffs vom Bund auf die Kommunen muss grundsätzlich überdacht werden, da landesverfassungsrechtliche Finanzgarantien nicht mehr greifen. Das Durchgriffsrecht des Bundes auf die Kommunen ist eine finanzverfassungsrechtliche Fehlentwicklung und bedarf einer grundsätzlichen Neuregelung.

IV.
Die Entflechtung und Stärkung der Verantwortlichkeiten im Bundesstaat muss sich auch und gerade in der Durchsetzbarkeit eigener Gestaltungsentscheidungen beweisen. Dies gilt für Bund und Länder gleichermaßen. Durch die klare Trennung der Verantwortlichkeiten wird der hohe Anteil zustimmungspflichtiger Gesetze erheblich reduziert.

Der Bund macht von seiner Kompetenz zur Regelung von allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach Art. 84 und Art. 85 GG in hohem Umfang Gebrauch. Dadurch wird ein Wettbewerb zwischen den Ländern um eine möglichst straffe und effiziente Verwaltung bereits im Keim erstickt. Daher soll sich der Bund aus der Verwaltungshoheit der Länder zurückziehen.

Wir brauchen mehr länder- und regionenspezifische Unterscheidungsmöglichkeiten. Durch Regulierungen von Bundesseite wird der Standortwettbewerb der Länder unterbunden. Die Landtage fordern daher eine stärkere Berücksichtigung ihrer Organisationshoheit. Organisations- und Verfahrensregeln gehören in die Kompetenz der Länder, da die Umsetzung ohnehin durch die Länder zu erfolgen hat. Darüber hinaus muss auch der Bund seine Kompetenzen und Aufgaben wieder in einem stärkeren Maße selbst verantworten können, ohne daran über den Bundesrat faktisch gehindert werden zu können. Deshalb sollen die legislatorischen Zustimmungspflichten kritisch überprüft werden.

V.
Kernpunkt der Föderalismusreform ist neben der Entflechtung der Zuständigkeiten eine Neuordnung der Finanzverfassung. Die Palette der Entflechtungsmöglichkeiten reicht von einer partiellen Entmischung der Finanzen bis hin zu einem echten Trennsystem mit eigenen Steuererhebungsrechten der Länder. Bei Einsetzung der Föderalismuskommission wurde die Bandbreite jedoch erheblich eingeschränkt, weil sowohl der Bund-Länder-Finanzausgleich als auch der Solidarpakt zum Tabu erklärt wurden. Vorschläge für eine gerechtere Finanzverfassung müssen sich innerhalb dieses Korsetts bewegen. Der solidarische Finanzausgleich unter den Ländern soll dadurch nicht in Frage gestellt werden.

Das System der Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b GG hat sich nicht bewährt und muss weitestgehend abgeschafft werden. Wir fordern insbesondere, dass der Hochschulbau und die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur künftig allein von den Ländern wahrgenommen wird. Der Küstenschutz fällt hingegen in die Kompetenz des Bundes. Die gemeinsame Bildungsplanung wird abgeschafft und künftig allein durch die Länder koordiniert. Die notwendigen Finanzmittel für die Länder müssen ihnen vom Bund dynamisiert zur Verfügung gestellt werden.

Grundsätzlich muss gelten, dass jede Ebene autonom über die Aufgaben, ihre Einnahmen und Ausgaben entscheiden kann. Wenn substantielle Materien wieder in die Regelungskompetenz der Länder zurückgeführt werden, brauchen sie zur Kompensation der Ausgabenlast eine Verbesserung ihrer Einnahmen. Bislang können die Länder die Verbesserung der Einnahmen nur über eine höhere Verschuldung erreichen.

Die Landtage fordern daher originäre Gesetzgebungskompetenzen der Länder im Steuerrecht. Dies gilt vor allem bei Steuern, deren Aufkommen ohnehin den Ländern oder den Kommunen zufließt. Dies gilt zum Beispiel für die Grund- und Gewerbesteuer, die Schenkungs- und Vermögenssteuer.

Die Länder müssen einen ausreichenden Spielraum erhalten, um die Höhe der Steuereinnahmen bei den Gemeinschaftssteuern zumindest teilweise in eigener Verantwortung bestimmen zu können. Bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer sollten die Länder Hebesatzrechte erhalten. Dies kann durch Regelungen von Mindesthebesätzen analog zum horizontalen kommunalen Finanzausgleich sichergestellt werden.

VI.
Die Ländermitwirkung in europäischen Angelegenheiten nach Art. 23 GG hat sich als unpraktikabel erwiesen und muss daher verbessert werden. Die Europapolitik greift durch ihre Regionalisierungstendenzen immer stärker in Länderinteressen ein.

Die Landtage vertreten mit Nachdruck das Subsidiaritätsprinzip. Entscheidungen müssen möglichst nah am Bürger getroffen werden. Vorrang hat die Kommune, erst dann folgen Land, Bund und Europäische Union. Die jeweils höhere Entscheidungsebene darf nur regeln, was die untere nicht besser regeln kann. Wir wollen mehr Demokratie für die Menschen in Europa. Dies kann nur gelingen, wenn Europa bürgernäher wird. Die Frage nach der europäischen Einbindung und der Regelungskompetenz der Regionen ist so alt wie die Befürchtung der deutschen Länder, durch die Europäisierung werde der Föderalismus in seinem Kern bedroht. Die Länder dürfen nicht zu bloßen Agenturen der Umsetzung europäischer Gesetze, Verordnungen und Richtlinien werden. Damit würde der Kern ihrer Eigenstaatlichkeit ausgehöhlt.

Darüber hinaus führt die fortschreitende Europäisierung des deutschen Föderalismus zu einer Neugewichtung der Rolle der Landtage. Eine Stärkung der Länder im europäischen Integrationsprozess darf nicht nur eine Stärkung der Landesregierungen zur Folge haben. Eine europäische Demokratisierung erreichen wir nur über eine stärkere Beteiligung der Landesparlamente in europäischen Fragen. Die Exekutivlastigkeit der Politik in europarechtlichen Fragen muss behoben werden. Der Föderalismus lebt vom Parlamentarismus und hat nur so Zukunft – in den Ländern, im Bund und in Europa. Die Landesregierungen müssen die Landesparlamente frühzeitig über Vorhaben der Europäischen Union informieren und ihre Beteiligung bei der Normsetzung auf europäischer Ebene verbessern. So muss den Landesparlamenten insbesondere ein Tätigwerden im Sinne des Subsidiaritätsprotokolls und die Nutzung des Frühwarnmechanismus des europäischen Verfassungsentwurfs ermöglicht werden.

Martin Mendler

Stellv. Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion

Rudi Hoogvliet

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Fraktion Bündnis90/Die Grünen