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Die Bildungsreform in Baden-Württemberg muss endlich vollendet werden: Zwei gleichwertige und starke Schularten im Sekundarbereich für ein zukunftsfähiges Bildungssystem ab dem Jahr 2030.

Das gesamte Bildungssystem und besonders die Schulstrukturen müssen sich daran messen lassen, ob sie heute und in Zukunft ihre zentrale Aufgabe erfüllen: Jedes Kind und jeden Jugendlichen zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen und fit zu machen für eine selbstbestimmte und erfolgreiche Zukunft.

Das in Baden-Württemberg bis heute erhaltene Konzept einer dreigliedrigen Schulstruktur ist schon lange keine ausreichende Antwort mehr für diese Aufgabe und die auch durch den gesellschaftlichen Wandel entstandenen Herausforderungen. Die jüngst von der aktuellen Landesregierung beschlossenen Reformschritte führen nicht nur zu einem neunjährigen Gymnasium, sondern hinterlassen auch mehrere in ihren Möglichkeiten weiter reduzierte, konkurrierende Schularten und Parallelstrukturen. Manche Bildungsangebote existieren vor Ort gar nicht mehr, Abschlüsse werden eingeschränkt, der Niedergang ganzer Schularten ist absehbar. Schulträgern fehlt die Planungssicherheit ebenso wie den Familien. Auch dies hat zu der enorm gestiegenen Attraktivität der Gymnasien geführt, an denen inzwischen fast jedes zweite Kind unterrichtet wird.

Anstatt aber diese Veränderung an den Gymnasien als Chance zu verstehen, auch die weiteren Bereiche des Bildungssystems in die Betrachtungen miteinzubeziehen, hat sich die Landesregierung aus Grünen und CDU einer gemeinsamen parteiübergreifenden Bildungsallianz verweigert. Stattdessen wurde lediglich ein bildungspolitischer Formelkompromiss geschlossen. Ein Minimum, das erneut keine nachhaltige Antwort auf die aktuellen Herausforderungen darstellt.

Baden-Württembergs Schulsystem bleibt von nicht zu Ende geführten Reformen geprägt, die besonders die nicht gymnasialen Schularten betreffen: Sie können in den bestehenden Strukturen nicht in gebotenem Maß auf den sozialstrukturellen Wandel reagieren, nicht ausreichend Integration und Inklusion leisten. Der Reformbedarf im Land ist durch zahlreiche mittlere und hintere Plätze in Bildungsstudien belegt. Vor allem der Umstand, dass der Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern in Baden-Württemberg immer noch in hohem Maße vom sozioökonomischen Hintergrund abhängt, beschreibt den politischen Handlungsdruck und die Notwendigkeit nachhaltiger Reformen. Das inzwischen nicht mehr gegliederte, sondern eher zergliederte Schulsystem verursacht getrennte Bildungs- und Entwicklungsmilieus. Das widerspricht dem von der Landesverfassung (Art.11 Abs.1) geforderten Ziel der Bildungsgerechtigkeit.

Die Bildungsreform endlich vollenden

Die Anforderungen an unser Schulsystem dulden keine stillgelegten Baustellen, sie bedürfen mehr als nur Provisorien und Notbehelfe. Die seit über acht Jahren ruhende grundlegende Reform muss weitergeführt und vollendet werden, um das gesamte Schulsystem wieder zukunftsfähig und leistungsfähig zu machen. Weil in einem solchen Schulsystem alle Schularten ineinandergreifen, muss eine solche Reform auch alle Schularten berücksichtigen.

Gute Schularten wiederum sind keine Frage von Ideologien oder Türschildern. Gute Schulen sind eine Frage der besten Entwicklungsmöglichkeiten für unsere Kinder. Deren Wege entwickeln sich unterschiedlich und nicht immer zum selben Zeitpunkt. Die Stärke einer Sekundarschule kann und muss es also sein, über die Schulzeit alle Abschlüsse anzubieten. Jedem Schüler und jeder Schülerin soll während ihrer Entwicklung die Möglichkeit offenstehen, sich ohne Brüche der Bildungsbiografie für einen zu den Fähigkeiten passenden Schulabschluss zu entscheiden.  Nur wenn die Alternative zum Gymnasium eine Gleichwertigkeit nicht von vornherein ausschließt, wird diese zweite Säule wirklich attraktiv. Zwei attraktive Schularten sorgen auch ohne „Schülerstromlenkung“ für eine bessere Verteilung, gerade auch der leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler. Studien belegen, dass weniger aufgefächerte Schulsysteme erfolgreicher sind, Hamburg macht mit seinem Schulsystem auf zwei Säulen seit 2010 gute Erfahrungen.

Das Bildungsangebot wird zudem übersichtlicher und macht eine flächendeckende Versorgung auch für die Schulträger einfacher. Das bedeutet mehr Möglichkeiten bei der Schulwahl an mehr Wohnorten – also auch hier mehr Bildungsgerechtigkeit.

Für zwei gleichberechtigte Sekundarschulen spricht schließlich auch der massive Mangel an Lehrkräften, der bisher gerade die nichtgymnasialen Schularten betrifft. Auch hier wird eine bessere Verteilung ermöglicht. Vorteile bietet auch die effektivere Nutzung bereits bestehender Schulbauten und Räumlichkeiten.

Ein starkes Zwei-Säulen-System im Sekundarbereich

Aus der Zusammenführung der Hauptschule, der Werkrealschule, der Realschule und den Gemeinschaftsschulen wird eine neue Sekundarschulart eingerichtet. Die andere Säule wird weiterhin das Gymnasium bilden. Beide Säulen sind gleichwertig und ermöglichen den Weg zum Abitur. Die neue Schulart bietet aber auch den Hauptschulabschluss und den Mittleren Abschluss an. Ziel ist dort, Schritt für Schritt einen individuell abgestimmten Weg und den passenden Abschluss zu ermöglichen. Der gymnasiale Pfad ist möglich, aber nicht alternativlos vorgegeben.

Nach Klasse 9 und 10 gibt es das Angebot für den Hauptschulabschluss. Nach Klasse 10 ist der Mittlere Abschluss möglich, nach 13 Jahren das Abitur. Jeweils vor Beginn der Klassenstufe 9 und 10, in der ein Abschluss ansteht, muss sich die Schülerin oder der Schüler entscheiden, ob sie am Ende des Schuljahres einen Abschluss ablegen will. Auch nach erfolgreichem Abschluss ist es möglich, die Schule weiter zu besuchen und einen höheren Abschluss zu erreichen. Der Lernfortschritt ist der Anhaltspunkt dafür, welchen Schulabschluss eine Schülerin oder ein Schüler erreichen möchte und erreichen kann.

Alle Kinder werden in der neuen Schulart in den Klassenstufen 5 bis 6 gemeinsam in ihren Klassengemeinschaften unterrichtet. In dieser Orientierungsphase gibt es kein „Sitzenbleiben“ und eine zeitweise Auflösung der Fächer.

Ab Klasse 7 kann für einzelne Fächer ein Kurssystem eingerichtet werden, das die Vorbereitung auf verschiedene Abschlüsse erlaubt. Die Kurse sind dabei so angelegt, dass ein Niveauwechsel immer mindestens zum Halbjahr oder zum neuen Schuljahr möglich ist. Die Klassenstufe 11 dient der Abiturvorbereitung. In den Klassenstufen 12 und 13 wird, wie am Gymnasium, im Rahmen der Kursstufen die allgemeine Hochschulreife abgelegt.

Der Unterricht der neuen Schulart soll stark auf individuelle Begabungen und individuelle Förderung ausgerichtet sein. Datengestützte Qualitätsentwicklung ist darum entscheidend. So wird auch über zusätzliche Förder- oder Begabtenangebote entschieden.

Entscheidend anders ist in der neuen Schulart auch eine individualisierte Feedbackkultur mit personalisierten Lernentwicklungsberichten.

Berufsorientierung und eine gelungene Berufsvorbereitung werden dabei wesentliche Komponenten der neuen Schulart sein. Berufliche und akademische Ausbildung werden gleichwertig vermittelt. Dazu dient auch eine klar strukturierte Zusammenarbeit mit den beruflichen Schulen.

Mit der Umstellung auf das neue Zwei-Säulen-Modell sollen zudem die Bildungspläne überarbeitet und angepasst werden. Dabei ist das Ziel, verbesserte Übergangsmöglichkeiten zwischen den Niveaustufen sowie von und zum Gymnasium zu gewährleisten.

Die neue Schulart wird eine rhythmisierte Ganztagsschule sein. In den Klassenstufen 5 und 6 mit einem verbindlichen Ganztag an mindestens drei Tagen in der Woche. Ab Klassenstufe 7 entscheidet die Schule über Umfang und Dauer des Ganztags. Alle Schulen sollen dabei unterstützt werden, sich in der Phase des Übergangs zu Ganztagsschulen weiterzuentwickeln.

Die nötigen Rahmenbedingungen

Trotz der Kurssysteme sind die Aufgaben der Lehrkräfte auch in der neuen Schulart vielfältig, und die Klassen werden an allen Schularten heterogener. Umso wichtiger, dass sich Lehrkräfte auf das Unterrichten und die individuelle Förderung konzentrieren können. Alle Lehrerkollegien an der neuen Schulart werden verbindlich und dauerhaft von multiprofessionellen Teams unterstützt. Jede Schule erhält verbindlich eine Stelle für Schulsozialarbeit zugeordnet, die durch Landesbedienstete besetzt wird. Auch wird jeweils eine Stelle „Referent/in der Schulleitung“ geschaffen.

Ergänzend erfolgt die Stundenzuweisung auf Grundlage sozialindexbasierter Ressourcenzuweisung nach dem Vorbild der Hamburger Stadtteilschulen. Damit erhalten Schulen mit besonderen Herausforderungen aufgrund der Zusammensetzung ihrer Schülerschaft erhöhte Stundenzuweisungen.

Der Klassenteiler wird (wie auch an den Gymnasien) auf 26 festgesetzt.

Zeitplan: Zwei starke Säulen bis 2030

Eine neue Struktur des baden-württembergischen Bildungssystems wird Veränderungen mit sich bringen. Deshalb ist es uns wichtig, in einer Phase des Übergangs mit allen Beteiligten auszuloten, wie die Umstellung am besten gelingen kann. Auf Bildungskonferenzen möchten wir mit allen Beteiligten zu Beginn der Phase des Übergangs Herausforderungen identifizieren und gemeinsam Lösungsansätze erarbeiten.

Damit alle Schulen der neuen Schulart das Abitur anbieten, müssen mindestens in einer Übergangsphase Partnerschaften mit Gymnasien und beruflichen Schulen den Weg zum Abitur ermöglichen. Ein Wechsel auf ein berufliches Gymnasium nach Klasse 10 bleibt unabhängig von einer bestehenden Oberstufe weiterhin möglich.

Die Ausbildung der Sekundarschullehrkräfte wird dahingehend reformiert, dass diese Bildungsinhalte bis zum Abitur vermitteln können.

Das Ziel ist, bis zum Jahr 2030 ein echtes Zwei-Säulen-System im Sekundarbereich flächendeckend zu etablieren.

Ansprechpartner

Lisa Rößner
Beraterin für Bildung, Jugend und Sport