Maßgebliche Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft und den Gesundheitsorganisationen veröffentlichen Szenarien zur Verbreitung des Coronavirus im bevorstehenden Herbst und Winter. Wahrscheinlich ist: Bei den derzeit herrschenden Virusvarianten werden die Fallzahlen wieder deutlich ansteigen, die Bevölkerung muss geschützt werden. Besonders der Schutz vulnerabler Gruppen muss gewährleistet sein, aber auch die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und der kritischen Infrastruktur.

Von den Ermächtigungen zu Schutzmaßnahmen in §§ 28a f. Infektionsschutzgesetz in der ab 01. Oktober geltenden Fassung müssen die Länder bei Bedarf auch weiterhin umfassend Gebrauch machen. Die Länder selbst müssen besser vorbereitet in den Herbst und Winter gehen als in den vergangenen beiden Jahren. Der Maßnahmenplan mit seinen entsprechenden Stufen muss vor Herbst fertig sein, damit sich alle Akteure darauf vorbereiten können.

Die Verordnungspraxis der grün-schwarzen Landesregierung hat nicht zuletzt durch ständig wiederholende sogenannte Notverkündungen zu großen Unsicherheiten bei den Betroffenen in allen Bereichen geführt. Handwerkliche Fehler, wie sie der Landesregierung beispielsweise zuletzt Anfang Juli vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim attestiert wurden, dürfen sich künftig nicht mehr wiederholen. Es bedarf einfacher, transparenter, nachvollziehbarer und rechtlich einwandfreier Regelungen, die auch entsprechend
breit und frühzeitig kommuniziert werden müssen. Nur so kann gewährleistet werden, dass in der Bevölkerung ein Verständnis für die sich verändernde Situation und die dadurch notwendigen Maßnahmen
entsteht.

Von der Landesregierung erwartet die SPD-Landtagsfraktion folgendes:

1. Impfen gegen Omikron BA.1

Die Impfung ist nach wie vor der beste Schutz vor schweren Verläufen einer Covid-19-Infektion. Die Landesregierung muss eine umfassende und zielgerichtete Impfkampagne mit dem neu zugelassenen Impfstoff gegen die Omikronvariante BA.1 auflegen. Ziel muss sein, dass ab dem Moment, in dem die Ständige Impfkommission eine Impfempfehlung für weitere Teile der Bevölkerung gibt, diese innerhalb von vier Wochen geimpft werden können. Das Land muss dringend Kapazitäten aufbauen, die massenhafte Impfungen innerhalb kurzer Zeit ermöglichen. Da wir – anders als der Gesundheitsminister – davon ausgehen, dass die niedergelassenen Ärzt*innen und die Betriebsärzt*innen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen werden, sind ausreichende ergänzende staatliche Impfangebote vorzuhalten. Sollte wieder ein staatliches Impfterminvergabesystem nötig sein, muss dieses vulnerable Personen und Beschäftigte der kritischen
Infrastruktur vorrangig berücksichtigen sowie Wohnortnähe beim Impftermin bieten. Zudem braucht es wieder mobile Impf-Teams, um insbesondere Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen sowie dort Beschäftigte direkt vor Ort impfen zu können.

2. Einladung zum Impfen

Die Impfbereitschaft bezüglich des gegen die Omikronvariante BA.1 angepassten Impfstoffs muss erhöht werden. Die Landeskampagne „Dranbleiben BW“ allein ist dazu nicht ausreichend. Es muss schnellstmöglich die Grundlage und Struktur erarbeitet werden, die es erlaubt, jede Person gezielt mit Informationsmaterial, einer Einladung oder Aufforderung zum Impfen zu erreichen.

3. Maskenpflicht im ÖPNV

Masken sind ein effektives und wenig grundrechtsintensives Mittel, um Infektionen zu vermeiden. Insbesondere im Öffentlichen Personennahverkehr besteht wegen der großen Personenfluktuation, der intensiven räumlichen Nähe und der nicht immer ausreichenden Luftzirkulation ein gesteigertes Infektionsrisiko. Das Land muss im Öffentlichen Personennahverkehr auf Grundlage der Ermächtigung im Infektionsschutzgesetz in der ab 01. Oktober 2022 geltenden Fassung auch im kommenden Herbst und Winter zum Tragen einer FFP-2 oder medizinischen Maske verpflichten.

4. Schutz vulnerabler Menschen

In Baden-Württemberg gab es deutlich mehr Infizierte in den Pflegeheimen als im Durchschnitt der anderen Bundesländer und leider auch sehr viele Todesfälle. Die Landesregierung muss wenigstens dieses Mal die guten Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts umsetzen und dafür sorgen, dass diese Konzepte vor Ort auch angewandt werden. Hier braucht es Unterstützung für die Einrichtungen, aber auch Kontrollen. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist umzusetzen – und zwar vorrangig mit dem Ziel, dass sich bisher ungeimpfte Beschäftigte impfen lassen und nicht, dass sie aus dem Beruf gedrängt werden. Dazu gehört eine gute, individuelle Beratung. Hygienekonzepte und medizinische Leitlinien für Alten- und Pflegeheime sowie für Kinderbetreuungseinrichtungen (Kitas/ Schulen) müssen zeitnah überarbeitet werden. Isolierende Maßnahmen sind nicht zu wiederholen. Niemand soll allein ohne vertraute Menschen sterben müssen. Insbesondere in Pflegeeinrichtungen und Hospizen ist auf Maßnahmen zu verzichten, die Menschen isolieren, die keine Infektion haben.

5. Kinder und Jugendliche im Blick haben

Wir fordern seit über zwei Jahren ein „krisenfestes Klassenzimmer“, in dem unter stabilen Rahmenbedingungen gearbeitet werden kann. Das gilt sowohl für Wechselunterrichtsmodelle als auch für den Einsatz von Lernmanagementsystemen und Videokonferenztools sowie die Anpassung der Pädagogik an den Fernunterricht. Bei steigenden Fallzahlen an den Schulen muss in verschiedenen pandemischen Verlaufsszenarien gedacht werden. Zusätzlich brauchen unsere Schulen zusätzliche Lehrkräfte sowie personelle Unterstützung in Form multiprofessioneller Teams und Assistenzsysteme wie Coaching, Schulsozialarbeit und Schulpsychologie. Wir wollen, dass Treffen mit Kooperationspartnern nicht von vorne herein ausgeschlossen werden, sondern
dass Mittel und Wege gefunden werden, wie diese möglich sind. Angebote der Kinder- und Jugendarbeit und der Vereine sollen so wenig wie möglich eingeschränkt werden. Dafür sind gute Hilfestellungen etwa zu sinnvollen Hygienekonzepten durch die Landesregierung erforderlich. Dies gilt insbesondere für Sport, Spiel und Bewegungsangebote. Psychologische und psychiatrische Angebote für Kinder und Jugendliche sind auszuweiten. Die Wirtschaft im Land leidet zunehmend unter Fachkräftemangel, während zugleich immer weniger Menschen eine duale Ausbildung beginnen. Vor dem Hintergrund der stark gesunkenen Ausbildungszahlen, die unter anderem auf die fehlende Berufsorientierung an Schulen zurückzuführen sind, muss künftig
der Zugang für Ausbildungsbotschafter an Schulen gewährleistet sein. Die grün-schwarze Landesregierung darf junge Menschen und die Betriebe im Land nicht wieder im Regen stehen lassen, wenn sich die Coronasituation wieder zuspitzen sollte.

6. Masken- und Testvorrat für alle Schulen

Es braucht einen Vorrat an hochwertigen FFP2-Masken und Testkits für mindestens drei Monate, um auf alle Szenarien im Herbst vorbereitet zu sein. Es muss für Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler möglich sein, sich jederzeit freiwillig testen zu lassen bzw. einen Mund-Nasen-Schutz zu erhalten. Die Finanzierung muss das Land für alle Schularten übernehmen. Auch in Kitas müssen freiwillige Tests möglich sein. Dafür bedarf es altersgerechter Tests für Kleinkinder, um eine korrekte Anwendung zu gewährleisten.

7. Impfaufklärung an Schulen

Wie vom Corona-Expert*innenenrat gefordert, sollten an Schulen Programme zur Impfaufklärung unter Einbeziehung von Eltern und Betreuungspersonen stattfinden. An den Schulen sollte es Impfangebote geben, deren Organisation und Abwicklung jedoch extern erfolgen muss.

8. Luftfilter in Schulen und Kitas

Wir fordern, dass die Schulen und Kitas mit Luftreinigungsgeräten ausgestattet werden – vorrangig zu installieren in schlecht zu belüftenden Räumen. Die Schulträger sollen bei der Tragung der damit verbundenen Energiekosten unterstützt werden. Die gegenwärtige Energiekostenkrise darf nicht dazu führen, dass zu Lasten der Gesundheit auf infektionsschützende, aber energieintensive Maßnahmen wie das Betreiben von Luftfiltern verzichtet wird. Hierzu muss das Land für einen auf die Wintermonate begrenzten Zeitraum Sondermittel zur Verfügung stellen.

9. Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken

Der zwischen Bund und Ländern vereinbarte Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst ist so schnell wie möglich in Baden-Württemberg umzusetzen. Dazu gehört insbesondere die rasche Besetzung der über Bundesmittel finanzierten zusätzlichen 400 neuen Stellen und eine Verbesserung der Arbeitssituation, insbesondere in der IT.

10. Kliniken vorbereiten

Es müssen Pläne über den Aufschub von nicht zeitkritischen Behandlungen, Reservebetten, entsprechende Personalkapazitäten und möglicherweise notwendig werdende Patientenverlegungen existieren. Engpässe in den Kliniken werden nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder erwartet. Um Kliniken vor Überlastung zu schützen und rechtzeitig reagieren zu können, braucht es ein erweitertes Erfassungssystem für die täglichen Neuaufnahmen und die Belegung der Intensivstationen nicht nur für Patientinnen und Patienten mit COVID 19, sondern auch für solche mit Influenza und RSV-Infektionen über ein zentrales Register. Zudem ist eine Messung der COVID-19-unabhängigen Belastung des Gesundheitswesens mit angemessenen Kennziffern einzuführen. Hierzu gehört die Zahl der mit Personal betreibbaren Betten unterteilt nach freien und belegten Betten sowie das zur Verfügung stehende Pflegepersonal in der direkten Patientenversorgung.

11. Wirtschaft und Kultur

Sollte sich die Coronasituation wieder zuspitzen, muss der Staat bereit sein, wieder einen verlässlichen Schutzschirm zu spannen. Auch das Land ist dabei gefordert, entsprechende Hilfen zur Verfügung zu stellen, um Betriebe zu unterstützen und Arbeitsplätze zu sichern. Erneute Schließungen insbesondere in der Gastronomie, im Einzelhandel und im Kulturbereich gilt es zu
vermeiden. Es braucht JETZT den Dialog der Landesregierung in Form von Runden Tischen mit den verschiedenen Beteiligten, um zu diskutieren, welche Maßnahmen sich in den letzten beiden Jahren bewährt haben und welche nicht. Eine erneute Zuspitzung der Lage im Herbst und daraus resultierende Einschränkungen für Wirtschaft und Kultur müssen verhindert werden.

12. Gut vorbereitet mit klarer Kante gegen „Corona-Extremismus“

Baden-Württemberg war von den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen besonders betroffen, auch weil die sogenannte „Querdenken-Bewegung“ ihren Ursprung in Baden-Württemberg hat. Mit Blick auf den Herbst ist zu erwarten, dass das Thema Impfen wieder Fahrt aufnehmen wird und damit auch die Corona-Proteste im öffentlichen Raum wieder stark zunehmen werden. Wir erwarten von der Landesregierung, dass sie sich auf diese Situation vorbereitet. Die Landesregierung muss auf ihren Kommunikationskanälen offensiv gegen Fake-News vorgehen. Die Zivilgesellschaft muss in ihrem Engagement gegen Verschwörungserzählungen und Demokratiefeinde unterstützt und gestärkt werden. Das Innenministerium muss die Kommunen deshalb schon jetzt dahingehend beraten, wie bereits im Vorfeld gegen Versammlungen vorgegangen werden kann und diese möglicherweise untersagt werden können. Klar ist außerdem auch: Der Rechtsstaat muss mit voller Härte gegen Straftaten vorgehen. Ein starker Rechtsstaat definiert sich nicht darüber, dass er Recht setzt, sondern auch dadurch, dass er dem Recht auch Geltung verschafft. Auf Corona-Demonstrationen insbesondere gegenüber Einsatzkräften der Polizei und der Ordnungsbehörden verübte Straftaten, müssen schnell und hart geahndet werden, wenn möglich im beschleunigten Verfahren nach §§ 417 ff. Strafprozessordnung. Auch darüber hinaus gilt: Bei Verstößen gegen das Versammlungsrecht handelt es sich nicht um Bagatellverstöße.

Ansprechpartner

Klose Fraktion
Roland Klose
Berater für Sozial- und Gesundheitspolitik