Um uns von Entsetzen und Grauen nicht völlig lähmen zu lassen, retten wir Menschen uns in Rituale. Das ist auch nach der furchtbaren Bluttat von Solingen wieder so. Die Leute kommen zum Tatort und legen Blumen ab und Briefe, sie treffen sich zu Schweigeminuten, zu Trauermärschen. Man will spüren, dass man wenigstens nicht allein dasteht mit der Trauer, der Fassungslosigkeit, auch dem Zorn über so viel sinnlosen Tod.
Diese Rituale helfen, sie sind wichtig, und es ist schlimm genug, dass sie einem schon wie Routinen vorkommen. Umso mehr könnte ich auf einige politische Routinen verzichten, die leider gar nichts helfen.
Klar ist, dass die Zahl der Messerattacken nicht nur gefühlt zunimmt, sondern nachweislich und deutlich. Und klar ist auch, dass der Anteil der Migranten und Geflüchteten unter den Tätern enorm ist. Wir haben da zu tun, und zwar dringend.
Aber was müssen wir tun? Auf jeden Fall mehr, als dumpfen Unsinn zu verbreiten. Wer die Tat von Solingen zum Anlass nimmt, das Ende der Aufnahme aller Menschen aus Bürgerkriegs- und Unrechtsstaaten wie Syrien und Afghanistan zu fordern, hat eher die nächsten Landtagswahlen als unsere Verfassung im Kopf. Messer verbieten? Ja, vielleicht auf bestimmten Plätzen. Klingenlängen reduzieren? Haben sie in England gemacht, dort nehmen die Täter Küchenmesser, wie übrigens jetzt auch in Solingen. Reicht das? Nein.
Auch der schnelle Ruf nach schärferen Sanktionen schafft keine Sicherheit, sondern nur Strafe. Grenzkontrollen hätten die meisten der bisherigen Taten nicht verhindert, weil die Menschen gar nicht illegal über die Grenzen kamen. Täter, die man dann schnell und überallhin abschiebt, müssen ja erst einmal Täter werden. Und wer im Wahn persönlichen Elends und islamistischer Radikalisierung Bluttaten anrichtet, dem sind die Strafandrohungen der Bundesrepublik ziemlich egal. Reicht das? Nein.
Es gibt keine Lösungen im TikTok-Format. „Alle raus und keiner mehr rein“ geht nicht, nicht wegen unserer Verfassung, auch nicht wegen unserer Wirtschaft, auch nicht wegen des gesunden Menschenverstands. Man kann nicht ganze Herkunftsnationen für einzelne Täter in Sippenhaft nehmen, und wer das meint, wird vor dem nächstbesten Gericht scheitern. Was müssen wir machen? Wir müssen die Menschen, die zu uns kommen, genauer anschauen. Denen helfen, die Hilfe brauchen. Die integrieren, die wir so dringend brauchen. Die abweisen, die hier nicht bleiben können. Die abschieben, die unsere Sicherheit bedrohen. Dafür braucht es keine Parolen, sondern Personal. Ein Ende dieses unsäglichen Provisoriums, in dem wir seit bald einem Jahrzehnt verharren: Immer mit einem vollkommen überforderten System, viel zu wenig Fachleuten, Betreuerinnen und Betreuern. Deswegen radikalisieren sich Geflüchtete, ohne dass es jemand merkt. Deswegen tauchen sie unter, wenn sie aus dem Land sollen. Vielleicht haben Konservative immer gedacht, Geflüchtete würden wieder gehen, wenn wir sie weitgehend alleine lassen. Aber wir verlieren nicht die Geflüchteten. Wir verlieren nur die Kontrolle.
Noch einmal: Mehr Sicherheit braucht Kontrollen, braucht Sanktionen, braucht schnellere Abschiebung, braucht zügigere Verfahren. Mir fehlt bei all den Aussagen nur der Hinweis, dass es auch noch mehr braucht, und das alles zusammen Fachleute und Geld braucht. Wir wissen, dass wir ein Einwanderungsland sind. Unsere Wirtschaft sagt uns, dass wir ein Einwanderungsland sein müssen. Aber Taten wie in Solingen und Mannheim zeigen uns deutlich, wo wir als Einwanderungsland unsere Hausaufgaben machen müssen.