Wolfgang Drexler: „Der Umgang mit der Reaktorsicherheit im Land war geprägt von organisierter Verantwortungslosigkeit – der selbsternannte Atomguru Keil muss deshalb umgehend von seinen Aufgaben entbunden werden“
MdL Rainer Stickelberger: “Vom Atomkumpan zum Kontrolleur ist es für Müller noch ein weiter Weg“
Nach rund 1 1/2-jähriger Arbeit hat der „Untersuchungsausschuss Atom“ seine Arbeit beendet und seine abschließenden Berichte vorgelegt. Für SPD-Fraktionschef Wolfgang Drexler steht außer Frage, dass es richtig war, diesen Untersuchungsausschuss gegen den Willen aller anderen Fraktionen durchzusetzen, um die Rolle der Atomaufsicht bei den zahlreichen Pannen im Atomkraftwerk Philippsburg aufzuklären und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Selbst der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, der CDU-Abgeordnete Scheuermann, habe in Zeitungsinterviews noch im Juli dieses Jahres eingeräumt, dass der Ausschuss zumindest dazu beigetragen habe, „dass sich das Umweltministerium überhaupt – oder vor allen Dingen schneller – zu Konsequenzen aus dem Störfall in Philippsburg II veranlasst gesehen hat“.
Drexler erinnerte daran, dass Umweltminister Müller in seinem 30-seitigen Schlussbericht zu der Pannenserie auf das Verhalten der Atomaufsicht lediglich in drei kurzen Absätzen auf der allerletzten Seite dieses Berichtes eingegangen war. Der Versuch des für die Pannen verantwortlichen obersten Atomaufsehers im Land, alle Schuld ausschließlich bei anderen abzuladen, sei nur durch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses aufzuhalten gewesen. Drexler wörtlich: „Erst durch die Arbeit des Ausschusses haben wir das ganze Ausmaß des Versagens der Atomaufsicht ans Licht zerren können. Weil wir jetzt wissen, wie sich die Dinge wirklich abgespielt haben, können wir nun auch sagen, welche personellen und organisatorischen Konsequenzen aus diesem Atomskandal gezogen werden müssen.“
Nach der intensiven Befragung vieler Zeugen im Ausschuss und anhand der beigezogenen Akten kommt die SPD-Fraktion zu dem Schluss, dass die Atomaufsicht im Land geprägt war von „organisierter Verantwortungslosigkeit“ und einem kaum zu fassenden Informationschaos. Im Ministerium selber seien wichtige Störmeldungen einfach liegen geblieben oder gar im Papierkorb gelandet, nicht sorgfältig und schon gar nicht rasch genug geprüft worden und der Monopolgutachter TÜV habe für viel Geld völlig unkontrolliert vor sich hin arbeiten können. Bezeichnend in diesem Zusammenhang sei die Aussage eines TÜV-Mitarbeiters, die vielen Lämpchen auf der Anzeigetafel des AKW Philippsburg seien ihm vorgekommen wie ein „Weihnachtsbaum“. Angesichts des kompletten Versagens der Atomaufsicht im Land fordert der SPD-Fraktionschef die sofortige Ablösung des zuständigen Abteilungsleiters Dr. Keil.
Minister Müller und sein Staatssekretär Mappus hätten nach Ansicht Drexlers ihre Ämter schon längst von sich aus niederlegen müssen, wenn sie ihrer Verantwortung für das Versagen der Atomaufsicht wirklich gerecht geworden wären.
Drexler: „Erst im Untersuchungsausschuss ist durch die Zeugenaussagen von Bundesminister Trittin und seines Staatssekretärs, aber auch durch die Aussagen von EnBW-Verantwortlichen herausgekommen, welch fatale Rolle Umweltminister Müller im Streit um die Abschaltung des Atomreaktors gespielt hat. Er hat sich als Büttel des Betreibers aufgeführt und gegen die Abschaltung opponiert, statt sich im Interesse der Sicherheit auf seine Rolle als Kontrolleur zu besinnen.“
Völlig zu Unrecht hätten Müller, Keil und Mappus in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken versucht, sie seien von Anfang an in hohem Maße sensibilisiert gewesen und hätten zeitnah die notwendigen Konsequenzen gezogen. Durch einen Aktenvermerk und durch Zeugenaussagen im Untersuchungsausschuss sei ans Licht gekommen, dass die Störfallmeldung volle 9 Tage vom Abteilungsleiter Keil zum Staatssekretär Mappus gebraucht hat und weitere 15 Tage, um von dort auf den Tisch des Ministers zu gelangen, insgesamt 57 Tage vom Störfall bis zum Abschalten der Atomanlage!
Und auch erst durch den Untersuchungsausschuss sei aufgedeckt worden, dass das Kraftwerk nach Revisionen jahrelang ohne Erlaubnis der Aufsichtsbehörde hochgefahren wurde. Diese Genehmigung wurde parallel dazu beantragt, ohne dass sich die Aufsicht je daran stieß.
Drexler: „Schon dieser Umgang mit einer hochgefährlichen Atomanlage zeigt, dass die Atomaufsicht im Land auf der ganzen Linie versagt und damit auch jegliches Vertrauen der Bevölkerung verspielt hat.“
Es sei eine schreckliche Vorstellung, so Drexler, dass dieses Versagen nicht nur für Philippsburg gilt. Auch bei den anderen Atomanlagen im Land müsse davon ausgegangen werden, dass wichtige Sicherheitsvorschriften verletzt wurden und die Atomaufsicht wie der TÜV dort genauso schlampig und unseriös gearbeitet haben wie im Fall Philippsburg. „Schon aus diesem Grund war der Untersuchungsausschuss unverzichtbar, um die Atomaufsicht im Land aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Die Kernkraftwerke bergen ein ungeheuer hohes Sicherheitsrisiko und deshalb müssen sich die Bürgerinnen und Bürger darauf verlassen können, dass ein Höchstmaß an Sicherheit gewährleistet ist. Genau dies aber war bisher eindeutig nicht der Fall.“
Wie wenig die Landesregierung aus Fehlern zu lernen bereit ist, zeigt sich nach Drexlers Worten auch an der Missachtung eines Beschlusses des im Februar 1996 abgeschlossenen Untersuchungsausschusses „Obrigheim“. In ihrem abschließenden Votum hatte damals auch die CDU die Landesregierung aufgefordert, „die Verordnung über Zuständigkeiten nach dem Atomgesetz dahin gehend zu ändern, dass die Zuständigkeiten für Genehmigungen und für die Aufsicht über Anlagen in einem Ressort zusammengeführt werden.“ Außerdem wurde die Landesregierung aufgefordert, „für die zusätzliche Absicherung von Begutachtungsprozessen auch in künftigen atomrechtlichen Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren neben dem langjährigen Gutachter TÜV Südwest und seinen Untergutachtern andere wissenschaftlich qualifizierte und unabhängige Gutachter als sachverständige zuzuziehen“.
Nichts von alldem sei auch tatsächlich umgesetzt worden, kritisiert Drexler. „Wir werden deshalb sehr sorgfältig darauf achten, ob wenigstens die von der Regierung selber angekündigten Konsequenzen nach der Atompanne in Philippsburg auch tatsächlich umgesetzt werden, auch wenn diese Konsequenzen nach unserer Einschätzung noch längst nicht weit genug gehen.“
Rainer Stickelberger: Weit reichende Konsequenzen notwendig!
Nach Ansicht der SPD-Fraktion müssen aus dem Atomskandal weit reichende Konsequenzen für die Atomaufsicht gezogen werden, die im Einzelnen in ihrem Minderheitenvotum dargelegt werden. Während beim TÜV und beim Betreiber personelle Konsequenzen gezogen und teils massive technische Änderungen vorgenommen wurden, habe der zuständige Landesumweltminister sich und sein Haus von Konsequenzen bisher weitgehend verschont, kritisierte der Obmann der Fraktion im Untersuchungsausschuss, Rainer Stickelberger.
Im Untersuchungsausschuss sei deutlich geworden, dass die direkt für das AKW Philippsburg zuständigen Ministerialbeamten das Problem nicht erkannt und sich kritiklos der Bewertung des Betreibers anschlossen haben. Abteilungsleiter Keil und Staatssekretär Mappus hätten die Vermerke der Mitarbeiter abgezeichnet, ohne sie zu lesen. Und der Minister habe dann auch noch das Parlament getäuscht, indem er verschwieg, dass Keil und Mappus Wochen vor ihm über den Störfall informiert waren, ohne etwas zu unternehmen. Auch dies sei erst durch den Untersuchungsausschuss ans Licht gekommen.
Dr. Keil muss gehen
„Der zuständige Abteilungsleiter Dr. Keil war und ist ganz offenbar seiner Aufgabe nicht gewachsen und muss von seiner Aufgabe entbunden werden.“ Sein Fachwissen nütze wenig, weil er weder mit seinen Mitarbeitern, noch mit dem Minister sein Wissen zu teilen bereit sei. An seine nach eigener Darstellung überaus kritische Haltung gegenüber dem Betreiber und seine angeblichen Erkenntnisse über die wahre Bedeutungsschwere des Ereignisses vom August 2001 habe sich außer Keil selber keiner der befragten Zeugen erinnern können, sagte Stickelberger. Vielmehr habe sich der Verdacht erhärtet, dass dies eine bewusste Legendenbildung war, um sich nachträglich von dem Vorwurf zu befreien, nichts erkannt und alles verschlafen zu haben.
Scharfe Kontrolle der Betreiber
Der Betrieb der Kraftwerke muss nach Ansicht der SPD intensiver und kontinuierlicher überprüft werden. Dazu gehöre die Wiederaufnahme von unangekündigten Betriebsbegehungen, aber auch ein echter Check aller wichtigen Funktionen vor dem Wiederanfahren nach Revisionen. Das Wiederanfahren nach Revisionen dürfe zudem erst erfolgen, wenn dazu die schriftliche Erlaubnis der Aufsichtsbehörde vorliegt. Es müsse auch klar festgelegt werden, wann und auf welche Weise kerntechnische Anlagen einer kompletten Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden.
„Hätte man in Baden-Württemberg vor dem Wiederanfahren eines Kernkraftwerkes alle wichtigen Funktionen vorschriftsgemäß überprüft, wäre es nie zu dem zweiwöchigen Blindflug von Philippsburg gekommen, mit allen damit verbundenen Risiken.“
Auch die im Atomgesetz vorgeschriebene grundsätzliche Überprüfung aller sicherheitsrelevanten Systeme im Kernkraftwerk sei nie durchgeführt worden, obwohl Dr. Keil sie in seiner Sicherheitskonzeption ab 1996 sogar alle drei Jahre vorsah. „Das entlarvt ihn als reinen Papiertiger. Auch die als Konsequenz aus dem Atomskandal angekündigte Jobrotation in der Atomaufsicht stand bislang schon auf dem Papier, ohne je wirklich praktiziert worden zu sein.“
Aufsicht statt Nachsicht – Kontrolle statt Kumpanei
Trotz glasklarer und deutlicher Unterschreitung eines überaus wichtigen Grenzwertes (2200 ppm Borsäure in den Flutbehältern) sei die daraus resultierende Gefahr nicht erkannt und die Atomanlage nicht sofort abgeschaltet worden. Die von Umweltminister Müller im Untersuchungsausschuss dafür vorgetragene Entschuldigung – die so genannte „technische Sichtweise“ – sei geradezu absurd, so Stickelberger. Die Fehlbeurteilung des Ausfalls der Notkühlsysteme durch die Atomaufsicht habe zusammen mit dem Totalausfall des teuren Monopolgutachters eine höchst brisante Lage heraufbeschworen.
Stickelberger: „Mit einer solchen Grundhaltung trotz klar festgelegter Grenzwerte Atomkraftwerke zu betreiben, ist eine fahrlässige Gefährdung der gesamten Bevölkerung.“
Die SPD fordert deshalb, die Richtlinien für die Atomaufsicht zu verschärfen und dabei insbesondere festzulegen,
1. wie oft und in welcher Intensität Schulungen für die Mitarbeiter der zuständigen Fachabteilung wahrzunehmen sind;
2. auf welche Weise bei den periodischen Sicherheitsüberprüfungen jeweils der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik als Bewertungsmaßstab angewendet wird und wie die Abweichungen davon sicherheitstechnisch bewertet werden;
3. dass die Einhaltung von Prüffristen des Prüfhandbuchs gewährleistet und durch den Gutachter wie auch durch die Atomaufsicht selbst überprüft wird;
4. dass und wie oft regelmäßige systematische und unangemeldete Betriebsbegehungen durchgeführt werden. Dafür muss ein Begehungsprogramm erarbeitet werden, das alle sicherheitsrelevanten Themen umfasst;
Atomaufsicht muss schnell sein
Minister Müller müsse endlich sicherstellen, dass alle eingehenden Meldungen auch dokumentiert werden, und alle Informationen sowohl im Hause als auch zu den Bundesgremien schnell weitergeleitet werden. „Es ist eine unglaubliche Schlamperei, wenn, wie bei den Ereignissen von Philippsburg geschehen, buchstäblich alles immer fünf und mehr Tage irgendwo bei der Ministerialbürokratie liegen bleibt, bis es weiterbearbeitet wird.“
ILK auflösen
Die SPD fordert auch, den Gefälligkeitsgutachter ILK (Internationale Länderkommission Kerntechnik) vor die Tür zu setzen. Stattdessen solle das Land wieder konstruktiv in den bestehenden Bundesgremien mitwirken, als deren ideologisches Gegengewicht die ILK zusammen mit Bayern und Hessen geschaffen wurde. Die dabei jährlich eingesparten 500.000 Euro ließen sich besser in die Nutzung der Erneuerbaren Energien oder in die Energieeinsparung investieren, sagte Stickelberger.
Stickelbergers abschließendes Fazit: „Es ist eine Horrorvision, aber es stimmt leider: Ohne die wache und kritische Haltung auf Bundesebene wäre Philippsburg nie abgeschaltet worden, trotz des damit verbundenen riesigen Gefährdungspotenzials. Das hat der Untersuchungsausschuss eindeutig herausgearbeitet. Die Atomaufsicht, insbesondere Minister Müller, muss jetzt zeigen, dass er aus den Fehlern auch wirklich gelernt hat. Statt Kumpanei mit den AKW-Betreibern ist Kontrolle erforderlich! Die bisher eher halbherzig gezogenen Konsequenzen lassen aber nicht erkennen, dass der bekennende Atomfan Müller diese Lektion auch wirklich gelernt hat.“